Sehr geehrte Damen und Herren,

 

den aktuellen Sicherheitsbericht für Schleswig-Holstein haben wir mit Interesse zur Kenntnis genommen, wir bedanken uns für die Gelegenheit, gegenüber dem Innen- und Rechtsausschuss zum Bericht Stellung zu nehmen.

Unser Landesverband vertritt aktuell 50 Organisationen, die in der Straffälligen- und Opferhilfe unseres Bundeslandes aktiv sind. Aus Sicht dieser Organisationen ist eine stabile innere Sicherheit in Schleswig-Holstein, die explizite Zielvorstellung des Sicherheitsberichts1, abhängig vom Gelingen einer sozialen Strafrechtspflege.

„Soziale Strafrechtspflege verknüpft den staatlichen Schutz seiner Bürger durch das Strafrecht als Notwehrrecht gegen das Verbrechen, verknüpft das Rechtsstaatsprinzip mit dem Sozialstaatsprinzip, mit der Achtung und Förderung des Menschen in seiner sozialen Entwicklung, in seinen sozialen Verhältnissen. Soziale Strafrechtspflege muss sich bemühen, Armut und soziale Randständigkeit nicht zu einer Strafbegründung oder Strafverschärfung werden zu lassen. Strafe ist keine Wohltat, keine sozialpolitische Maßnahme, darf aber auch nicht unnötig soziale Not verschärfen. Dies wäre nicht nur inhuman, sondern auch ineffektiv in dem Sinne, den Straftäter von einer Wiederholung der Tat abzuhalten. Eine soziale Strafrechtspflege setzt sich aus fünf Komponenten zusammen:

  • Berücksichtigung der sozialen Bedingungen des Verbrechens

  • Beachtung der sozialen Auswirkungen der Strafe

  • Sozialkompensatorische Prozessführung

  • Einbringen der Opferinteressen

  • Strafvollstreckung im Sinne eines Resozialisierungskonzepts“2

 

Schleswig-Holstein verfügt zur Zeit über ein vergleichsweise gut funktionierendes und vernetztes System der sozialen Strafrechtspflege und ist im Verbund mit Maßnahmen der primären Kriminalprävention in der Lage, auf aktuelle Kriminalitätsentwicklungen sachgemäß zu reagieren.

Im Effekt hat Schleswig-Holstein mit einer Gefangenenrate von 51 je 100.000 Einwohner sowohl bundes- (Bundesdurchschnitt 88)3 als auch europaweit Vorbildcharakter. Die Entscheidung, vor allem der Gerichte und Staatsanwaltschaften, Haftstrafen als ultima ratio zu sehen und zunächst mit alternativen Sanktionierungsmethoden zu arbeiten, ist nicht nur unter finanziellen Gesichtspunkten sinnvoll. Andere strafrechtliche Sanktionen weisen im Vergleich zur Haftstrafe eine erheblich geringere Rückfallwahrscheinlichkeit auf4 und verringern somit für die Einwohnerinnen und Einwohner Schleswig-Holsteins das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden.

Möglich ist eine solche Herangehensweise allerdings nur, wenn die Arbeit von Polizei, Gerichten, Staatsanwaltschaften und dem Justizvollzug durch professionelle und vielschichtige ambulante Sanktionsangebote wie auch durch eine breite Palette von Resozialisierungsangeboten innerhalb und außerhalb des Justizvollzugs unterstützt wird, wie es die einschlägigen Strafvollzugsgesetze ja auch vorsehen5.

Von all diesen Maßnahmen findet im Sicherheitsbericht allerdings lediglich die unzweifelhaft zentrale Arbeit der Gerichts-, der Bewährungshilfe und der Führungsaufsicht Erwähnung6. Die für die innere Sicherheit ebenso bedeutsamen Angebote der Freien Straffälligen- und Opferhilfe wie auch die Angebote der Kommunen sind hier nur kurz subsumiert oder fehlen dort gänzlich. Sie sollen hier deshalb in aller gebotenen Kürze ergänzend aufgezählt werden.

  • Therapien und Beratungsangebote für Sexualstraftäter oder Suchtkranke,

  • Maßnahmen zur Ausbildung und beruflichen Qualifizierung sowie der Arbeitsbeschaffung,

  • Schuldner- und Sozialberatung,

  • Ausbildung und Begleitung von Ehrenamtlichen in der Straffälligenhilfe,

  • Anti-Gewalt-Training,

  • Betreuungsweisungen oder soziale Trainingskurse,

  • Täter-Opfer-Ausgleich,

  • speziell auf junge Straftäter ausgerichtete Angebote der JGH wie z.B. Verkehrserziehungskurse, soziale Trainingskurse, usw.

  • die Vermittlung gemeinnütziger Arbeit zur Haftvermeidung,

  • Zeugenbegleitprogramme und vielfältige Hilfen für Kriminalitätsopfer.

Zur Vermeidung von Rückfällen bedarf es insbesondere einer strukturierten, auf den einzelnen Inhaftierten abgestimmten Entlassungsvorbereitung, um den Übergang von der Haft in die Freiheit so zu gestalten, dass die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls möglichst gering gehalten wird. Der Sicherheitsbericht greift die Forderung nach einem strukturierten „Übergangsmanagement“ im Bereich der Bewährungshilfe auf (S.125). Da die meisten der Entlassenen jedoch keinen Bewährungshelfer haben, bedarf es hier geeigneter Konzepte, um diesen Übergang und die erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft zum Wohle aller zu schaffen. Ein wesentlicher Ansatz hierzu wird vom Justizministerium durch die Einrichtung so genannter beruflicher „Integrationsbegleitungsstellen“ verfolgt: Fachleute freier Bildungsträger nehmen Strafgefangene bereits während der Haft in Empfang und begleiten sie bis zu sechs Monate nach Entlassung in eine Zukunft mit Arbeit und Beschäftigung. Nach Untersuchungen des Kriminologischen Dienstes des Landes NRW im dortigen Jugendstrafvollzug sind solche Maßnahmen geeignet, die Rückfallwahrscheinlichkeit nach einer Haftstrafe deutlich zu reduzieren. Es sind aus Sicht unseres Landesverbands zukünftig allerdings noch weitere Anstrengungen, insbesondere bezüglich der Abstimmung und noch effektiveren Vernetzung aller bestehenden Resozialisierungsangebote im Sinne eines landesweiten Gesamtkonzeptes für das Übergangsmanagement nötig.

 

Aus Sicht des Schleswig-Holsteinischen Verbandes für soziale Strafrechtspflege; Straffälligen- und Opferhilfe e.V. muss vor dem Hintergrund der aktuellen Haushaltsdebatten sehr darauf geachtet werden, die sozialen Dienste der Justiz und die in diesem Rahmen mittels etablierter Aufgabenübertragung arbeitenden freien Träger auch weiterhin finanziell angemessen auszustatten, um diese wesentlichen Elemente einer erfolgreichen Kriminalitätsbekämpfung und -prävention in Schleswig-Holstein nicht zu gefährden.

 

Ferner ist das Land gefordert, einen entsprechenden Blick auch auf die gesetzlich normierten Angebote der Kreise und kreisfreien Städte in der Resozialisierung zu richten. V. a. bzgl. der Jugendgerichtsbarkeit ist zu beklagen, dass die Einleitung von nach dem JGG vorgesehenen jugendrichterlichen Auflagen und Weisungen regional z. T. durch ein nur sehr begrenztes Angebot behindert wird. So kommen bspw. Täter-Opfer-Ausgleichsverfahren, Anti-Gewalt-Trainings oder soziale Trainingskurse in regional völlig unterschiedlicher Quantität zur Anwendung – ein Zustand, der aus Landessicht nicht hinnehmbar sein sollte.

 

Da der noch erscheinende 3. Opferschutzbericht der Landesregierung umfassendere Darlegungen zum Bereich des Täter-Opfer-Ausgleichs auch für Erwachsene enthalten wird, sei an dieser Stelle nur auf das bis zum Ende des Jahres 2012 laufende Projekt zu Restorative Justice hingewiesen, welches in Schleswig-Holstein durch unseren Verband als Projektträger in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium und unter wissenschaftlicher Begleitung der Fachhochschule Kiel durchgeführt wird.7 Der seit 20 Jahren in Schleswig-Holstein erfolgreich durchgeführte Täter-Opfer-Ausgleich ist eine Form von „Restorative Justice“. Weitere Ansätze, Einsatzmöglichkeiten und Methoden könnten geeignet sein, die bestehende Strafjustiz zu bereichern und zugleich zu entlasten.

 

Die Verurteilung zu Geld- statt Freiheitsstrafen führt dazu, dass bei der Nichtzahlung die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafe droht. Hier liegt Schleswig-Holstein mit einem Anteil von 9,3 % aller Inhaftierten über dem Bundesdurchschnitt (7,6 %)8. Nicht nur angesichts der oben bereits aufgeführten erheblichen Erhöhung des Risikos eines Rückfalles bei Vollstreckung einer Haftstrafe, sollte hier konsequenter die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen durch Vermittlung in gemeinnützige Arbeit gefördert werden. Eine soziale Strafrechtspflege trägt nicht nur in diesem Bereich zur weiteren Stabilisierung der Inneren Sicherheit in Schleswig-Holstein bei.

 

Der Sicherheitsbericht verdeutlicht, dass eine längerfristige Betrachtung von Kriminalitätsentwicklung, ggf. auch entgegen einer zu beobachtenden medialen Dramatisierung spektakulärer Einzelfälle, für politische Entscheidungen ausschlaggebend sein sollte. Auch aufgrund eines funktionierenden Systems der sozialen Strafrechtspflege ist die Sicherheitslage in unserem Bundesland insgesamt stabil. Für die nach kriminologischen Untersuchungen dennoch hohe Kriminalitätsfurcht, gerade bei älteren Menschen9, besteht in Schleswig-Holstein insofern derzeit kein objektiver Anlass. Insbesondere in Zeiten nötiger Haushaltskonsolidierungen ist aus den genannten Gründen auch zukünftig eine rationale und resozialisierungsorientierte Politik der Vernunft gefordert.

 

Mit freundlichen Grüßen,

Prof. Dr. Heribert Ostendorf

1. Vorsitzender

1Siehe SH Landtag, Drucksache 17/783, S. 4.

2Ostendorf, Heribert, 2005, www.soziale-strafrechtspflege.de .

3Siehe Statistisches Bundesamt, Justiz auf einen Blick 2011, Wiesbaden 2011, S. 30.

4Siehe ebenda, S. 34.

5§§ 7, 15 I Nr. 3, 19 I JStVollzG SH, §§ 2, 154 StVollzG.
Der Vollzug von Freiheitsstrafen ist nicht nur kraft einfachen Gesetzesrechts, sondern von Verfassungs wegen dem Ziel der Resozialisierung verpflichtet vgl. stRspr BVerfGE 35, 202, 235f.; 116, 69, 85.

6Siehe SH Landtag, Drucksache 17/783, S. 121ff.

8Siehe Statistisches Bundesamt, Justiz auf einen Blick 2011, Wiesbaden 2011, S. 33.

9 Vgl. Individuelle und sozialräumliche Determinanten der Kriminalitätsfurcht. Sekundäranalyse der Allgemeinen Bürgerbefragungen der Polizei in Nordrhein-Westfalen, Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle, Forschungsberichte Nr.4/2006, S. 5.

 

 


weiterführende Links:

Sicherheitsbericht für Schleswig-Holstein (1994 bis 2003)
Zweiter Sicherheitsbericht für Schleswig-Holstein (2004 bis 2009) Drs. 17/783
Erster Periodischer Sicherheitsbericht der Bundesregierung Schwerpunkt "Jugendliche als Opfer und Täter"
Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht der Bundesregierung (1999 bis 2006) Schwerpunkt "Kriminalität im öffentlichen Raum"